newyork
Lena Halberg
DER CELLIST

Leseprobe

PROLOG

Ein Teil des felsigen Bodens war eingesackt und bildete einen tiefen Krater. Dort musste das Zentrum der Verwüstung sein. Sicher waren Leute eingeschlossen. Er hastete über die steile Holztreppe des Hauptstollens hinunter, um jenen zu helfen, die es nicht mehr aus eigener Kraft ins Freie schafften – in solchen Momenten zählte jede Sekunde. Immer wieder drückten ihn andere, die panisch aus den Gängen stürzten, grob zur Seite. Bei einer Katastrophe schaut jeder nur auf sich selbst, dachte er bitter.

In der tieferen Etage der Grube bemerkte er einen süßlich scharfen Geruch. Er erinnerte ihn kurz an etwas, aber er beachtete ihn nicht weiter, da aus dem Dunkel wieder ein dumpfes Dröhnen kam. Der Boden unter den Füßen begann durch die schwere Erschütterung zu beben. Carlos taumelte, konnte kaum mehr stehen, lehnte sich keuchend gegen die Wand und suchte Halt an einem Felsvorsprung. Er schloss die Augen, wartete ab, bis es wieder still wurde und versuchte, einigermaßen ruhig zu atmen. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren.

Nach einem Augenblick schierer Angst zwang er sich weiterzugehen, doch hinter einer Biegung war der Weg zu Ende. Der Gang war eingestürzt, zur Gänze von herabgefallenen Brocken verschüttet. Carlos musste zurück zur letzten Abzweigung, dort gab es einen kleinen Platz, wo mehrere Stollen zusammenliefen. Er hoffte, dass trotz der letzten Entladung der Rückweg noch passierbar sei, als er wieder in die Gegenrichtung rannte. In dem dichten Staub, der in der Luft hing, sah man alles nur wie hinter einem Schleier. Die Grubenlampen, die in den Biegungen flackerten, warfen gespenstische Schatten – aber zumindest brannten einige davon noch. So konnte er sich mühsam in dem Gewirr von Gängen orientieren und nahm bei Abzweigungen immer den breiteren – dort würde es noch Sinn machen, nach jemanden zu suchen, der Hilfe brauchte. In den engen verwinkelten Schächten gab es nirgends Stützhölzer, deshalb hielten die Decken nicht stand. Sie brachen und begruben erbarmungslos alles unter sich.

Ein unterdrücktes Gurgeln ließ Carlos langsamer werden. Atemlos blieb er stehen und sah sich um. Es klang wie ein undeutliches Rufen, das hinter einem Haufen Schutt hervorkam. Er räumte mit den Händen die losen Stücke weg und stemmte sich dann mit den Füßen gegen einen größeren Felsbrocken, bis dieser zur Seite kippte und den Einlass in einen niederen Durchbruch freigab. Dahinter lag ein enger Querschlag, nur wenige Meter tief, vermutlich erst vor Tagen angelegt.

Carlos blickte in ein Augenpaar, das ihn leblos anstarrte. Ein Mann lag bis zur Brust unter Felsstücken, eine verdrehte Hand und sein Kopf mit einer klaffenden Wunde ragten heraus. Zwischen den verklebten Haaren sickerte Blut in die Ritzen zwischen den Steinen am Boden. Ein Teil seines weißen Plastikhelms mit der halben Aufschrift der Mining Company, die hier Zinn abbaute, steckte in den Trümmern. Der Aufprall musste so heftig gewesen sein, dass es ihn einfach in Teile zerrissen hatte.

Ein älterer Arbeiter kniete vor der Leiche, hieb mit den Fäusten auf die Brust des Toten und rief immer wieder einen Namen. Durch die Anstrengung hustete er, rang nach Luft, zog aber mit jedem Atemzug nur mehr von dem beißenden Rauch in seine Lungen. Carlos bückte sich, drückte dem Toten die Augen zu und zog dann den widerstrebenden Alten, der unverständliche Worte hustend aus sich herausstieß und den Blick nicht von seinem Kumpel lassen konnte, mit sich in den Hauptgang.

"Sie können nichts mehr für ihn tun", schrie er ihn an. "Er ist tot! Aber Sie leben, also kommen Sie, wer weiß, wie lange der Schacht noch hält!"