wasser
Essenz des Todes
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KAPITEL 1



Schwer atmend blieb Niels in der Einfahrt eines alten Gebäudes stehen und drückte sich neben der hohen Eichentür in den Schatten des Mauervorsprungs. Regungslos verharrte er eine Weile, dann spähte er vorsichtig zurück in die Straße. Die Reklametafel der kleinen Galerie an der nächsten Ecke warf ihren Schein auf die regennasse Fahrbahn und das Café gegenüber lag völlig im Dunkeln – alles schien menschenleer. Falls tatsächlich jemand hinter ihm her gewesen war, schien es ihm offenbar gelungen zu sein, den Verfolger abzuschütteln.

Schon seit Tagen hatte er das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Nur wenig beruhigt trat er wieder hinaus auf den Gehsteig. Sich weiterhin dicht an der schützenden Mauer haltend, hastete er weiter und bog Richtung Bahnhof in den Platz beim Rathaus ein. Genau gegenüber stand die St. Knuds Kirke, deren Vierkantturm aus roten Backsteinen mahnend gegen den Himmel aufragte. Im Schatten der Straßenbeleuchtung wirkte das wuchtige Mitteltor des Doms auf Niels eher wie der Eingang zur Unterwelt. Hier war früher eine brutale Gegend gewesen, wo im Mittelalter die aufständischen Landsknechte den später heilig gesprochenen König Knud und seinen Bruder mit bloßen Händen erschlagen hatten. Niels fröstelte instinktiv, als er daran dachte. Er beeilte sich, die freie Fläche zu überqueren und wieder in das schützende Dunkel zu kommen.

Die Straßen der Altstadt waren eng und mit glatt abgeschliffenen Kopfsteinen gepflastert, in denen sich bei Nässe verzerrt die Lichter spiegelten. Die kühle Feuchtigkeit tat Niels gut im Gesicht, als er die lange Nørregade hinauflief. Die ehemals wichtige Nord-Süd-Achse durchs dänische Odense, heute eine unpersönliche Geschäftsstraße am Rand des Zentrums, verlief parallel zum Park des barocken Schlosses bis zur Bahnstation. Von dort aus würde er in einem weiten Bogen zurück zum Hotel am Pjentedeich gehen. Er hatte den Umweg absichtlich gewählt, um sicher zu sein, dass ihm niemand bis zu seinem Hotel folgen würde. Noch immer überlegte er, wie lange man seine Schritte vielleicht schon beobachtete.

Nach dem Termin mit seinen Kollegen aus der Partei war er zunächst ziellos durch die Stadt gefahren und hatte danach in einer kleinen Pizzeria zu Abend gegessen. Die Besprechung war frustrierend, keiner der anderen wollte sich an seine Seite stellen, obwohl er ihnen klar gemacht hatte, was in seinem Landkreis im Süden gerade abging.

Während er über die Straße wechselte, drückte er die Umhängtasche mit seinem Notebook und den kopierten Mappen, die er am nächsten Tag an die Journalisten zu verteilen gedachte, enger an sich. Morgen würde die Öffentlichkeit vom größten Skandal der letzten Jahrzehnte erfahren. Und er, der einfache Abgeordnete aus der Provinz, würde ihn aufdecken!