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Lena Halberg: London '05
Leseprobe
PROLOG

Diffuses Licht fiel aus den grünlichen Mattscheiben der Notbeleuchtung auf den dunklen Bahnsteig. Tom keuchte schwer, sein Puls raste. Schwarzer Rauch schlug ihm entgegen, die Luft war drückend heiß. Er hatte plötzlich keinen trockenen Faden mehr am Körper und presste sein Taschentuch vor Nase und Mund.

Am vorderen Ende des Zugs sah es verheerend aus. Ganze Teile des Wagens fehlten, die Aluminiumplatten der Verkleidung hingen zerknittert in den verbogenen Metallverstrebungen, so als wären sie aus dünner Folie. Stücke der Inneneinrichtung lagen herum, ein bunter Plastiksitz ragte aus einem der Fenster, eine halbe Handtasche baumelte daran.

Tom schaute über die abgerissene Schiebetür ins Innere des Zugs und prallte zurück. Direkt vor ihm lag ein Mann verdreht am Boden. Die Augen starrten Tom aufgerissen an, ein Arm fehlte. Das Blut hatte eine große Lache gebildet, rann unter dem Körper weg, tropfte aus den Resten der Türverankerung auf die Gleise. Tom schob den Toten ein Stück zur Seite, atmete schwer durch und kletterte in den Wagen hinein. Überall lagen Leichenteile, zerstörte Körper, Schuhe, Taschen, angesengte Kleidungsstücke. Die massiven Stahlplatten des Bodens waren nach unten gebogen, so als hätte eine zornige Riesenfaust hineingeschlagen.

Von irgendwoher kam ein Laut wie ein unterdrücktes Weinen. Tom sah sich um - es war nicht festzustellen woher, nichts rührte sich. Er taumelte einige Schritte, wie über ein Schlachtfeld, durch den Waggon zur zweiten Tür, oder was davon übrig war. Waren die leisen Töne von dort gekommen, lebte abseits der größten Zerstörung noch jemand?

Neben der hinteren Türöffnung lag eine Frau, das war an weißen Jeans und einer am Fuß steckenden Sandale zu erkennen. Tom schlug sich die Hand vor den Mund, als er an dem Körper hochsah – die Hälfte des Gesichtes fehlte, aber über der Brust erkannte er die blutigen Reste eines hellgelben Sommertops. Das war die Frau mit dem Mädchen an der Hand gewesen. Sie erschraken, als sich die Türen schlossen und Tom – der gelaufen kam und nicht mehr stoppen konnte - gegen die Scheibe prallte. Dann sahen sie sein verdutztes Gesicht und winkten ihm lachend. Vor Tom blitzten für eine Sekunde die heiteren Augen der Frau auf, die ihm zugelächelt hatten. Wäre er nur zehn Sekunden früher dran gewesen und hätte die U-Bahn noch erreicht, läge er jetzt neben der Frau.

Als er wieder hochblickte, sah er etwas Rotes, ein Stück Stoff. Eigentlich fiel es ihm nur auf, da die Farbe grell aus dem ganzen Dreck hervorleuchtete. Die Puppe, durchzuckte es Tom, die Puppe, die das Mädchen zuvor in der Hand hielt, mit der sie ihm gewunken hatte! Er überwand seinen Abscheu und stieg mit einem Fuß über den Körper der Frau, um an den Kunststoffteil heranzukommen, hinter dem die Puppe hervorschaute. Er hob ihn an - da lag das Mädchen. Es war nicht bei Bewusstsein, es atmete und wimmerte leise. Das war der Laut, den Tom gehört hatte.

Auf der Brust unter ihrem Hals war eine große blaurote Schwellung, aber sie war am Leben, der Teil der Plastikwand hatte sie anscheinend wie ein Schild geschützt. Tom sah, dass ein Trenchcoat zwischen zwei verbeulten Sitzen steckte. Er riss ihn heraus und legte ihn auf den Boden. Ganz behutsam fasste er das Mädchen mit beiden Händen und zog es unter dem Wandpaneel hervor. Tom hatte keine Ahnung, ob er das überhaupt machen durfte, der Erste-Hilfe-Kurs in der Fahrschule war verdammt lange her. Trotzdem hob er die Kleine über die Leiche - wobei er vermied, in das halbe Gesicht der Frau zu blicken. Die rote Puppe, die ihn auf das Kind aufmerksam gemacht hatte, packte er dazu. Danach stieg er vorsichtig aus dem Trümmerfeld hinunter auf die Gleise und turnte über die herumliegenden Blechteile zurück zum hinteren Ende des Zugs.